Lieber Matthias,
lieber Michael Günther,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
eine Retrospektive anlässlich des 60. Geburtstages des Malers, Graphikers und Photographen Matthias Holländer ist angekündigt: Eine Rück-Schau auf 40 Jahre künstlerisches Schaffen also, auf Gemälde und Photographien aus den Jahren 1974 bis 2014. Eine Laudatio, die Würdigung eines ganzen Künstlerlebens, wäre angemessen. Und vieles, vieles wäre zu preisen, als da wären: Matthias Holländers Weg, ausgehend vom phantastisch-zeichenhaften Realismus, in einen immer komplexeren, skeptischen Realismus, der die Gegenstände so zeigt und schaut, dass sie uns Betrachtern ihr „wahres Wesen“ zugleich darzubieten wie zu entziehen scheinen. Genannt werden müsste, dass Matthias Holländer seinen eigenen Weg als „bekennender Realist“ beharrlich gegangen ist – auch durch Zeiten hindurch, in denen eine dem Realismus verpflichtete Malerei als hoffnungslos veraltet, obsolet galt; Beifall häufig nur von falscher Seite zu erwarten blieb. Und über die Kunst hinaus wäre einzugehen auf Holländers Engagement für die Konstanzer Kulturszene, den Erhalt des „Neuwerks“ etwa oder an seine Serie der „Bellevue“-Bilder, mit denen er auch ein Stück Zeit- und Geistesgeschichte vor dem Vergessen bewahrt hat.
Meine Damen und Herren, ich will dieser Versuchung widerstehen. Ausgangspunkt meiner Überlegungen soll die Beobachtung sein, dass wir, so mein Eindruck, die künstlerische Haltung dieses unverändert produktiven Realisten heute – jenseits des Jubiläums – anders, d.h. offensichtlich aktueller, wahrnehmen. Diese frappierend hyperrealistischen Gemälde, müssen wir nicht länger nur – und vorschnell – mit dem stilistischen Etikett „Photorealismus“ versehen. Holländers Gemälde und Photographien konfrontieren uns unausweichlich und nachdrücklich mit aktuellsten Fragen unserer Zeit: Was meint Realismus heute? Was bedeutet der laufende Prozess der Destabilisierung der Fotografie für unsere Vorstellung von Wirklichkeit? Wie sehen wir in einer Welt voll digitaler und damit eben auch digital bearbeiteter Bilder? In welches Verhältnis zueinander sind vermeintlich realistisch geschaute Objekte zu deren Wesen, Wahrnehmung und Wahrheit zu setzen? Es geht um Grundsätzliches: Wie „wirklich“ ist das, was wir Wirklichkeit nennen? Da sich die gängige Kongruenz zwischen Realismus und Realität auflöst, sind Holländers Bilder, die allesamt an dieser Nahtstelle angesiedelt sind, herausfordernd, elektrisierend, hoch spannend.
Erlauben Sie mir also, dass ich auf diesen Aspekt des Gesamtwerkes abhebe. Der Künstler selbst legt die Fährte, da der Maler Matthias Holländer seit einigen Jahren vermehrt die Quellen seines malerischen Werks aufdeckt, und sich in Ausstellungen zunehmend gleichwertig, so auch hier, als Photograph präsentiert.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Selbstverständlich ist es nicht so, dass die innige Wechselbeziehung zwischen der Malerei und der Photographie im Werk von Matthias Holländer unbekannt wäre. Wer immer ein Gemälde dieses Malers betrachtet, dem erschließt sich fast von selbst, dass es die Photographie ist, auf der das malerische Oeuvres basiert. Dennoch ist es ein Unterschied, ob Sie, meine Damen und Herren,
die Photographie wahrnehmen als Ausgang für das malerische Werk oderob Sie konfrontiert sind mit Photographien, die selbst wiederum, als Fine Art Prints gedruckt und in Passepartous gerahmt, autonome Kunstwerke sind und das photographische Paralleluniversum des Maler-Photographen Matthias Holländer aufschließen.
Niemand hat eindrücklicher auf die Wahlverwandschaft zwischen den Gattungen Malerei, Graphik und Photographie hingewiesen, als der Schriftsteller Adolf Muschg: „Holländer ist keineswegsnebenbeiFotograf; er zeigt auch, dass er es ist, wenn er malt, aber er malt keine Fotografie. Ein Rückblick auf diese würde vielmehr erlauben, sie [die Fotografie also] im Lichte des gemalten Bildes neu zu lesen – keine Version ist das Original, oder beide. Es sind Variationen einer von unterschiedlichen Medien gestützten Wahrnehmung.“
Was aber zeigen Matthias Holländers Gemälde und Photographien? Die Liste ist lang:
Interieurs; verwaiste, verwunschene, häufig aufgegebene Orte, Ruinen,menschliche Relikte, Hinterlassenschaften, Stillleben, Eisblasen,spiegelnde Gläser, Lichtreflexe, Verzerrungen, die feine Stofflichkeit des Lichts in Räumen,Sturzgläser mit medizinischen Präparaten, Vitrinen mit ausgestopften Tieren und Moulagen, Dioramen,weite, fremd-vertraute Landschaften, Hecken in flirrendem All-over,historisch beglaubigte Gruppenaufnahmen, selten nur die eine oder andere konkret bestimmbare Einzelperson,Oberflächen, Strukturen, Häute und Felle.
Was finden wir in dieser Bildern nicht: Bewegung, Geschwindigkeit, expressive Farben, Dinge des aktuell-modernen Lebens, den lauten Appell an und das Werben um den Betrachter.
Matthias Holländers Bilder sind still, Schnitte in die Vergangenheit, Forschungen entlang der Oberflächen der Gegenstände. Die gezeigten Gegenstände wirken auf uns verlassen, verloren, verhalten. In ihnen schwingt eine seltsame Melancholie, auch Morbidität mit, wie sie alten Vanitas-Darstellungen eigen ist. Indem auf der darstellenden Ebene die Zeit still steht, die Gegenstände verdämmern, die augentäuschenden Spiegelungen irrlichternd leuchten, wandeln sich Matthias Holländers Bildgegenstände in Gleichnisse. „Im Schauen vergehen“ – so hat Alissa Walser die Wirkung dieser Bilder auf uns, die Betrachter, beschrieben. Und wir, die wir vor diesen Vanitas-Bildern stehen, sind konfrontiert mit den alten, großen Fragen: Was ist Zeit? Was ist Sein? Was meint Wirklichkeit? Was ist Wahrnehmung?
Dass wir uns zu diesen >träumenden< Gegenständen seltsam hingezogen fühlen, so, als warteten sie geradezu darauf, Schicht für Schicht enträtselt, auf ihre Bedeutung hin überprüft zu werden, hat aber auch mit Holländers Malweise zu tun und mit der Art und Weise, wie er seine Photographien abzieht und präsentiert. Immer schwingt in seinen Arbeiten der Prozess der langwierigen Bildwerdung mit.
Alissa Walser hat 2010 anschaulich für die lasierende Malerei formuliert: „Malen, das heißt: Farbe auftragen, Farbe abtragen. Das heißt, der Farbe all das anzutun, was man der Farbe antun kann. Zimperlich geht er [Matthias Holländer] nicht um mit seinem Material. Er pinselt, spachtelt, schmirgelt, kratzt weg, er tupft und pünktelt und sprüht und spritzt und ätzt – und die Liste ließe sich bis ins Traumatische fortführen. Er spricht von malerischem Eros, von Emotionen, die ihn treiben, um dem Bild, das er malen will, näher zu kommen. Und er setzt alles ein: Reflexion und Zufall, Handwerk, Experiment und Erfindung.“
Vergleichbares gilt auch für die Photoarbeiten. Bis diese als fertige Prints an den Wänden hängen haben sie einen langen, verschlungenen Weg zurückgelegt. Holländer geht häufig aus von analog aufgenommenen Photographien. Ganze Serien photographischer Aufnahmen wenden sich wieder und wieder einem Gegenstand, einem Thema zu. Wie der Maler Skizze auf Skizze im Skizzenbuch anhäuft, so umkreist das „Augentier“ Matthias Holländer mit der Kamera ein Motiv; seine Motive. Aus der Fülle der Negative und Dias wählt der Maler-Photograph aus seinem Archiv jene aus, die er anschließend digital bearbeitet. In der Nachbearbeitung am Computer verliert das photographische Bild einen Teil seiner Haftung im Realen und nähert sich den Gestaltungsmöglichkeiten der Malerei und Zeichenkunst an. Auf matte, schwere Kunstdruckpapiere werden sie gedruckt, d.h in atmosphärisch dichte Graphiken mit verblüffenden Hell-Dunkel- bzw. Grauwertgradationen transformiert. Durch die Passepartourierung und klassische Rahmung verstärkt sich die graphische Erscheinung dieser Blätter. Sie wirken also tableauhaft. Sie entstehen durch die Bearbeitung aus Künstlerhand, die ganz offensichtlich vertraut ist mit der Mal- und Zeichenkunst.
Wenn wir uns nun, meine Damen und Herren, vergleichbar Archäologen, die sich durch sedimentierten Ablagerungen vorarbeiten, Schicht für Schicht entlang und entlang der Oberflächen dieser Bilder hinunter arbeiten bis zu den Gegenständen, kommen wir zu jenem rätselhaften Moment, in dem die Gegenstände – einerseits – sich aus den vom Künstler hinterlassenen Spuren bilden, formen und – andererseits und in eben diesem Augenblick – sich auflösen in Strukturen aus Farbpunkten, Schleiern, Lichtern, Spritzer und Flecken. „Verblüffend“ nennt Alissa Walser das: „Ich wollte doch eigentlich seine [d.h. Holländers] Bilder sehen, und jetzt sehe ich plötzlich meinen eigenen Blick.“
Sie werden vielleicht einwenden, dass dieser Unterschied zwischen Form und Gestalt charakteristisch ist für einige Arten von Malerei. Das ist richtig. Es macht aber einen Unterschied, ob solch ein Umschlag quasi „mitläuft“ oder ob eben dieser Konflikt, der auf die Eigenart des Schauens konzentrierten Akt, ein wesentlicher Kern ihres künstlerischen Gestaltschaffens ausmacht. Sicher: Auch Matthias Holländer weiß, wie jeder moderne Mensch, um die Vergeblichkeit auch seiner Annäherung an die Dinge. Das hindert ihn aber nicht, mit den Mitteln des sinnlich wahrnehmenden und gestaltenden Malers, weiter – fragend, suchend – einen „Realismus bis zum Auffallenden“ (Adolf Muschg) zu betreiben. Er mag vergeblich sein, dieser Prozess, unnötig aber ist er nicht. Und so balanciert Holländer weiter auf dem schmalen Grat zwischen künstlerischer Durchdringung der Form einerseits und illusionärem, sich an der Oberfläche der Dinge einstellender Schein andererseits. Die Auseinandersetzung mit den Dingen ist für Matthias Holländer unverändert eine große Einlassung auf die Grenzen des Künstler- und Menschendaseins: auf den Prozess des schauenden Sehens, auf die Rekonstruktion der Dinge im Vorgang des Gestaltens, auf die Vergeblichkeit dieses Tuns im Lichte der Zeit, unserer Geschichte und Endlichkeit.
Was also ist, abschließend noch einmal gefragt, von Holländers photographischen Realismus zu halten? Und wie soll man solch eine Kunst nennen, die die Erinnerung der Malerei in sich birgt und die Photographie ins Malerische und Graphische wendet? Ist diese Kunst realistisch, piktoralistisch, surreal, phantastisch?
Nun: wer Allegorien des Vergänglichen schafft, für den erschließen sich hinter den gezeigten Dingen weitere, verborgene Welten. Und wer seine Arbeiten so anlegt,
- dass die Dinge erst wahr werden, wenn sie aus der Dämmerung ins Licht treten;
- wahr werden, wenn sie eine Spur hinterlassen,
- so anlegt, dass die Oberflächentextur undurchdringlich bleibt,
- dabei gleichzeitig die Gestaltung – unbedingt – durchsichtig bis zum Grund anzulegen ist,
für den sind Bilder, und seien sie noch so photorealistisch, sehr viel mehr Erscheinungen, sehr viel mehr hybride Mittler zwischen den Welten, denn Dokumente des Realen.
Und so ist für Holländer Realismus nicht nur ein Stil, nicht bloß eine Gestaltungsweise, sondern eine Haltung, eine besondere Art des Zugangs zur Welt. Dem Sehen selbst, diesem Aufscheinen und Verschwinden der Dinge, nicht dem Sichtbaren an sich und nicht der Nachahmung der Natur, gilt sein Interesse. Dies ist sein Realismus; seine Art, die Unverfügbarkeit der Wirklichen zu fassen. Solch eine historisch zu nennende Schau ist Holländer die entscheidende Instanz und Quelle zur Kenntnis von Welt geworden. Und dieses Sehen bleibt untrennbar mit dem Nachdenken über die Möglichkeiten unseres Erkennens verbunden. Vergleichbar einer Welle nagt jedes Bild von Matthias Holländer unablässig und insistierend an der Natur des von uns Geschauten. Damit unterminieren, formen und verändern sie auch unsere Wahrnehmung – das ist die eigentliche Qualität der Bilder von Matthias Holländer.
© Christoph Bauer