Kirsten Helfrich, M.A., Kunsthaus Bregenz
Echolot – Zur Kunst von Karl-Heinz Stöhle
Die Entscheidung, dem 1957 in Bregenz geborenen Zeichner, Maler, Performance-, Objekt- und Medienkünstler Karl-Heinz Ströhle den diesjährigen Konstanzer Kunstpreis zuzusprechen, wurde fast einstimmig getroffen. Sein Werk überzeugte die Jury durch eine kontinuierliche Entwicklung, die sich jedoch niemals wiederholte, sondern sich im Gegenteil eine großzügige und spielerische Offenheit bewahrte.
Karl-Heinz Ströhle, der in den letzten 30 Jahren in Wien lebte und dort seit 2005 die Klasse ‚Kunst und kommunikative Praxis‘ an der Universität für angewandte Kunst unterrichtete, verwendete für seine Skulpturen und Malereien hauptsächlich flache Federstahlbänder. Diese biegsamen Bänder wurden zu freistehenden Skulpturen oder zu dynamischen Wandobjekten geformt, als Installationen im Raum ausgebreitet oder als Druckstöcke für seine Ölgemälde eingesetzt.
Die besonderen Merkmale dieses Materials – seine minimalistische Strenge gepaart mit einer widerspenstigen Biegsamkeit und Formbarkeit – faszinierten den Künstler sein gesamtes Schaffen hindurch. Inhaltlich ging es ihm dabei um die Entwicklung von organischen Formen in Zeit und Raum.
Die von Ströhle geschaffenen Objekte, die an durchlässige Behausungen oder auch Käfige erinnern, werden durch Berührungen oder Luftstöße in eine tänzelnde Schwingung versetzt.
Der Ästhetik-Philosoph Bazon Brock hat diesen Prozess, in dem ein bestehender Zustand temporär aus der Form gerät und dann wieder zurück in die Ursprungsform tendiert, als „Aformation“ bezeichnet. Je nach der Stärke des Impulses erzeugt das vibrierende Objekt unterschiedliche Raumeindrücke, die zwischen Stabilität und Instabilität changieren.
Diesem Prinzip der „Aformation“, der Deformation und seiner Rückbildung, folgen auch die Leinwandarbeiten Ströhles. Federstahlkreise werden verformt und die Linien der solcherart entstehenden „gestauchten Kreise“ mit Hilfe eines speziellen Druckverfahrens auf die Bildträger aus Baumwolle oder Leinen übertragen.
Die aus der Kreisform abgeleiteten Geometrien und Liniensysteme erinnern teils an große Blasen, die sich durch Abstoßung verformen und wieder in die Ursprungszustände zurückdrängen, oder, so es sich um auf reine Linienstrukturen reduzierte „Stauchungen“ handelt, an vielfach übereinandergelegte Achterbahnen.
Die neueren Öl-Bilder auf Baumwolle werden durch zusätzliche formale Elemente wie Abdrücke von Staubsaugerschläuchen oder Gummireifen angereichert, die der Künstler dem Bildträger ebenfalls durch Abklatschtechniken einschreibt.
Diese, aus dem Gleichgewicht geratenen, scheinbar zuckenden Linien stehen in engem Dialog mit den wippenden Federstahlskulpturen. Während eines längeren Arbeitsaufenthalts in Tokio hat Ströhle die Bewegungen der Skulpturen auf die Leinwand übertragen und in Videoarbeiten seine schwingenden Objekte vor die statischen, monolithischen Hochhäuser der Millionenmetropole gesetzt. In einer Stadt, die täglich von Erdbeben bedroht ist, erscheinen die Kunstwerke von Ströhle wie ein Seismograph dieses Zustandes.
In den letzten Jahrzehnten hat Karl-Heinz Ströhle zahlreiche Kunstprojekte im öffentlichen Raum realisiert, unter anderem für die Swisslife-Rentenanstalt in München, für Krankenhäuser in Salzburg und Vorarlberg sowie für die Passage zwischen Kunsthaus Bregenz und dem Vorarlberger Landestheater. Dort realisierte er bereits 1997 im Rahmen von „Kunst in der Stadt“ eine Bodenarbeit aus einer sich zwischen den Gebäuden schlängelnden Linie, definiert durch die vorherige Legung eines Stahlbandes.
Beim Neubau des vorarlberg museum in Bregenz von 2011bis 2012 verwandelte Ströhle den Baukörper durch ein bedrucktes Netz in einen riesigen, unregelmäßig schwarz-weiß gestreiften Kubus. Ein spannender, temporärer Dialog mit der transparenten Hülle des Kunsthaus Bregenz entstand. Auch bei den Werken im öffentlichen Raum war ihm die Auseinandersetzung mit der Linie und dem konkreten, vorgegebenen Ort wichtig.
In Karl-Heinz Ströhles Arbeiten traf Emotion auf Minimalismus, Konzept auf spielerische Spontanität und konkrete Ansätze auf abstrakte Formulierungen.
Eine seiner letzten Aktionen im Rahmen des diesjährigen Silvretta Atelier im Montafon zeigt dies exemplarisch – aus Markierungsstangen, die im Winter den Weg durch den Schnee weisen, wurde spontan ein riesiges Mikado-Spiel initiiert. Ein Spiel, das zwischen Zufall und Präzision changiert.
Die Skulpturen Karl-Heinz Ströhles aus Federstahl werden durch Berührung in Bewegung gebracht, zum Leben erweckt. Sie schwingen, wiegen und wippen in einem eignen Rhythmus. Teilweise ruckartig und holprig, dann wieder in harmonischem Einklang. Ihre Bewegungen übertragen sich auf die Wahrnehmung ihrer unmittelbaren Umgebung, sie treten in einen Dialog mit den Bewegungen der Äste eines Baumes, korrespondieren mit den Wellen auf der Wasseroberfläche oder den linienhaften Kreisbewegungen eines Vogels.
Die Federstahlskulpturen schwingen nach – gleich einem Echolot. Auch wenn ihre aktive Bewegung schon beendet ist, tragen sie diese dennoch in sich. Und sie haben sich auf ihr Umfeld übertragen und eingewirkt und dieses unwiederbringlich verändert.
Das gilt auch für Karl-Heinz Ströhle selbst – auch wenn er heute nicht mehr hier sein kann. Seine herzliche Persönlichkeit, seine klare und reflektierte Meinung, seine unendliche Kreativität und Lebensfreude wird nachschwingen und nachklingen. Durch seine Werke und in allen Menschen, die ihn geliebt und geschätzt haben.
Bei unserem letzten Gespräch hat Karl-Heinz zu mir gesagt: Rede nicht so viel, lass die Besucher lieber die Werke erfahren und erleben. Und in diesem - seinem Sinne - schließe ich meine Laudation.
Kirsten Helfrich