Konstanzer Kunstpreis

Simone Kappeler

Im Rahmen der Preisverleihung des  18. „Konstanzer Kunstpreises“, den in diesem Jahr die Frauenfelder Fotografin Simone Kappeler erhält, eröffnet der Kunstverein Konstanz am 20. Juli um 11 Uhr die Ausstellung „Auftauchen im Bild“. Stadt und Kunstverein würdigen die Preisträgerin mit einer Schau ihrer Werke, die Einblicke in Simone Kappelers über dreißig Jahre fortdauerndes fotografisches Schaffen gibt.

Die Ausstellung „Auftauchen im Bild“ präsentiert in den Räumlichkeiten des Kunstvereins Einblicke in unterschiedliche Werkgruppen und in die Bildwerdungsprozesse, mit denen die Fotokünstlerin arbeitet. Die 62-Jährige erfasst in ihren Fotografien visuelle Eindrücke der Außenwelt – Menschen, Dinge und Konstellationen, die sie auf ihren Reisen vorfindet. Oftmals sind es auch vordergründig unspektakuläre Szenen und Sujets, die sie mit der Kamera in ihrer unmittelbaren Umgebung einfängt. Doch auch inszenierte, hochkalkulierte Serien mit rätselhaftem Inhalt entstammen Kappelers Linse. So etwa die in der Ausstellung präsentierte Serie von Frauenakten, die hell erleuchtet vor schwarzem Grund einen Saibling oder Froschlaich in den Händen halten oder in deren Haar ein Schmetterling Platz genommen hat.

Auch die fotografischen Techniken und Apparate, welche die Fotografin einsetzt, sind divers: Häufig fotografiert sie mit Plastikkameras wie der „Diana“ – einer einfachen, amerikanischen Billigkamera, welche die Künstlerin auf ihren Reisen „wie eine Freundin“ begleitet. Bei den 2009 in Japan entstandenen Fotografien, die im Kunstverein gezeigt werden, kam die „Diana“ zum Einsatz. Die quadratischen Schwarzweißfotografien, die durch Unschärfe am Bildrand charakterisiert sind, zeigen Szenen, Stimmungen und Momente japanischen Alltagslebens, die  traumhafte, entrückte Stimmungen und Formen sowie mancherorts unspezifische, poetische Bildmomente hervorrufen.

Zudem verwendet Simone Kappeler auch Spiegelreflex- und Fachkameras, die Bilder mit hoher Schärfe erzeugen. Auf diese Weise entstand eine Serie exponierter Birnbäume, die ihre individuelle Geschichte zu erzählen scheinen. Auch beim Filmmaterial setzt sie auf Heterogenität: Von Normalfilmen über Nachtfilmen bis hin zu Infrarot-Aufnahmen setzt sie unterschiedlichstes lichtempfindliches Material ein, um über das menschliche Sichtvermögen hinauszugehen und dieses zu erweitern. So entstehen auch Fehlfarben und Überbelichtungen, die neue Seherlebnisse schaffen. Eine großformatige Aufnahme von der Uferzone eines Sees, vor deren tiefem Rotgrund ein Sprungturm und eine sich am Ufer Ausruhende hervortreten, ermöglicht in der Ausstellung eine derartige Seherfahrung. Im Flur des Kunstvereins wird der Ausstellungstitel „Auftauchen im Bild“ auch im wörtlichen Sinne ersichtlich: Eine Serie aus Unterwasser-Perspektive zeigt fünf Ansichten eines badenden Jungen, dessen Kopf über die konvex geschwungene Wasseroberfläche hinausragt, wodurch eine eigentümliche, ungewöhnliche Sichtweise entsteht.

Simone Kappeler zählt zu den wichtigsten Schweizer Fotokünstlerinnen ihrer Generation. 1952 in Frauenfeld geboren, studiert sie erst Kunstgeschichte und Germanistik, um sich ab 1975 an der Schule für Gestaltung in Zürich in der Fachklasse für Fotografie ausbilden zu lassen. Seitdem arbeitet Simone Kappeler als freischaffende Fotografin. Auf zahlreichen Reisen – erstmals 1981 durch die USA – erkundet sie mit Billigkameras wie der „Diana“ die sie umgebende Wirklichkeit in der Fremde. Es folgen fotografische Langzeitprojekte in Frankreich, in Graubünden und 2009 in Japan. Nach einer künstlerischen Phase in New York, in der sie sich der Konzeptfotografie widmet, arbeitet sie von 1983 bis 1984 als Theaterfotografin am Schauspielhaus Zürich. Seit 1999 ist sie Dozentin des Fotokurses der Kantonsschule Frauenfeld.

 

Zum achtzehnten Mal verleihen die Stadt Konstanz und der Kunstverein den alle zwei Jahre vergebenen „Konstanzer Kunstpreis“ an eine Künstlerin/einen Künstler, die/der im Bodenseegebiet geboren wurde oder beheimatet ist, deren/dessen Werk einen künstlerischen Eigenwert besitzt und deren/dessen Weiterentwicklung hohes Potential verspricht. Auswahl und Jurierung erfolgen durch eine international besetzte Kommission. Durch die Auszeichnung wird die Reichhaltigkeit und die Bedeutung des Kunstschaffens im Bodenseeraum betont, in das Bewusstsein der Öffentlichkeit getragen und die Bildende Kunst gefördert. Preisträger der letzten Jahre waren Markus Daum (2012, Deutschland), Tone Fink (2010, Österreich), Alex Hanimann (2008, Schweiz), Ulrike Ottinger (2006, Deutschland).

Festakt zur Verleihung

So, 20. Juli 2014, 11 Uhr
Kulturzentrum am Münster, Wolkensteinsaal

Begrüßung und Preisverleihung

Dr. Andreas Osner, Kulturdezernent
Michael Günther, 1. Vorsitzender


Laudatio
Corinne Schatz, Kunsthistorikerin

 

Künstlergespräch
So, 31. August 2014, 17 Uhr
mit Simone Kappeler und
Elisabeth Grossmann, Kunsthistorikerin

Sonderveranstaltung

Lesung von Gianni Kuhn
Sa, 27. September, 21 Uhr. Dauer: ca. 20 Minuten.


Im Rahmen der Kunstnacht liest der Schriftsteller Gianni Kuhn Gedichte und Texte, die sich auf Simone Kappelers Lichtbilder, den fotografischen Schaffensprozess und die angewandte Technik beziehen. Die intermediale Einbettung der ausgestellten Fotografien durch die Verbindung mit den literarischen Texten eröffnet eine erweiterte Sicht auf Simone Kappelers Bild-Welten, die in der Ausstellung präsentiert sind. Die Zuhörer erfahren durch die poetisch-subjektiven Worte des Autors eine persönliche Annäherung an die Fotografin und an ihre Arbeitsweise, die Bild und Text miteinander verschmelzen lassen.

Öffentliche Führungen

  • Do, 24. Juli, 18.30 Uhr
  • So, 07. September, 11 Uhr
  • So, 21. September, 11 Uhr

Die Frauenfelder Fotografin Simone Kappeler erhält den diesjährigen Kunstpreis der Stadt Konstanz. Die 62-Jährige zählt zu den wichtigsten Schweizer Fotokünstlerinnen ihrer Generation. Seit mehr als dreissig Jahren untersucht sie mit überwiegend analoger Fotografie atmosphärische Befindlichkeiten von Personen und Landschaften, die sie auf Reisen antrifft. Simone Kappeler arbeitet freischaffend. Der Preis, der alle zwei Jahre von Stadt und Kunstverein Konstanz vergeben wird, ist mit 8000 Euro dotiert und geht mit einer Ausstellung im Kunstverein Konstanz einher.

(Thurgauer Zeitung, 15. April 2014)

Fotos Vernissage
Laudatio

Sehr geehrte Damen und Herren

Liebe Simone

Stünde mir nur ein einziges Wort zur Verfügung, um Simone Kappelers Werk zu charakterisieren, so würde ich „Stille“ wählen. Stille nicht im Sinne des Stillstehens, sondern der Lautlosigkeit – diese Stille bedingt mehr als einen kurzen Augenblick, mehr als ein Anhalten der Zeit. Was mich in den Fotografien von Simone Kappeler so berührt ist, dass sie eine fast filmische Dauer in sich bergen.

Die Bilder von Simone Kappeler, die sich unauslöschbar in mein Gedächtnis eingebrannt und einen festen Platz in meinem imaginären Museum erobert haben sind jene eines runden, weissen Gartentisches vor einer Gusseisen-Bank und einer mit Efeu bewachsenen Mauer. Immer aus dem gleichen Blickwinkel aufgenommen füllt die zum liegenden Oval perspektivisch verzogene Fläche des Tisches fast die untere Bildhälfte aus. Die Tischfläche scheint seltsam nach unten gekippt, wie in einem Stillleben von Cézanne. Zwei dünne Beine wachsen in elegantem Schwung daraus hervor, als ob sie zum Tragen gar nicht fähig wären, sodass die Tischfläche schwerelos zu schweben scheint, die Beine eher wie Luftwurzeln sie am Abheben hindern. Mal leuchtet sie gleissend hell, in einem anderen Bild verdunkelt sich die Fläche. Lichtreflexe, Schattenspiele, manchmal abgefallene Blätter liegen darauf. Ein verwunschener Ort, unwirklich, wie aus einem Traum oder der zauberhaften Geschichte „The Secret Garden“, ein Buch das ich in meiner Kindheit geschenkt erhielt und das jahrelang ungelesen in meinem Regal stand und gerade dadurch meine Fantasie beflügelte. Die Bilder evozieren einen Ort voller Poesie und Geheimnis. Es ist nie jemand da – ja die Bilder vermitteln den Eindruck, als sei schon sehr lange niemand mehr da gewesen – es ist ein hortus conclusus. Trotzdem ändert sich ab und zu etwas, zusätzliche Stühle stehen da, die Jahreszeiten gehen vorüber. Die Tischplatte wird zu einer Leerstelle im Bild, zur Projektionsfläche, offen für eigene Erinnerungen, Gefühle, Gedanken. Die weisse Fläche ist der Eingang zu jener Stille. Nichts geschieht, nichts scheint vorher geschehen zu sein und nichts wird danach geschehen. Der Ort scheint der Zeit enthoben und ist zugleich erfüllt von Zeit.

Zahlreiche Autoren und Autorinnen, die über Simone Kappelers Arbeit geschrieben haben, erwähnen den Aspekt der Zeitlosigkeit, welche ihre Fotografien prägt. Der Moment, der Augenblick wird sozusagen in die Länge gezogen, es ist, als ob man in diesen Fotos aus dem Fluss der Zeit herausfallen würde – man wird entrückt. Stille tritt ein.

Die Motive, die Simone Kappeler fotografiert umspannen das ganze Spektrum der klassischen Fotografie. Landschaft, Interieurs, Stillleben, Alltagsszenen, Porträts. Ihre Aufnahmen entstehen im alltäglichen Umfeld ebenso wie auf zahlreichen Reisen. Dabei fällt auf, dass sie in unterschiedlichen stilistischen Sprachen gestaltet, ohne dass das Werk seinen inneren Zusammenhalt verlöre. Diese Vielfalt lässt sich in der Ausstellung entdecken. Sie reicht von fotojournalistischen Schwarz-weiss-Aufnahmen zu inszenierten Studioaufnahmen, von flüchtigen Schnappschüssen zu malerischen Farbfotografien.


Die  Künstlerin hat in den Räumen des Kunstvereins unterschiedliche Werkgruppen in eine spannungsvolle Begegnung gebracht. Wie sie erzählt, hat sie bei der Auswahl einen Bezug zum See, zum Wasser gesucht sowie zur Landschaft ihrer Heimat, dem Thurgau, dem Land der Obstbäume.

So sehen wir nun im grossen Saal eine der fotojournalistischen Tradition verpflichtete Serie von schwarz-weiss Aufnahmen aus Japan. Hier klingt der berühmte „entscheidende Augenblick“ von Henri Cartier-Bresson nach, wo sich die Elemente der Wirklichkeit zu einem kompositorisch perfekten Bild fügen, für den Bruchteil einer Sekunde in geometrische Konstellationen finden, die zugleich eine inhaltliche Beziehung zwischen den Dingen und/oder Personen wiedergeben oder erst konstruieren. Bei Simone Kappeler tritt eine formale Konstruktion nie so offensichtlich in den Vordergrund, ist aber oft erkennbar.

Betrachtet man z.B. das Foto aus Kyoto, Kiyomizu-dera, sieht man fünf Personen, die auf einer Treppe stehen, links im Hintergrund führen Bauten aus Bambus mit textilen Fassaden in einer Diagonale in den Hintergrund. Es ergeben sich verschiedene Liniengefüge und Beziehungen zwischen den beiden Männern links, dem Jungen rechts vorne, den beiden Mädchen hinten rechts im architektonischen Raumgefüge. Diagonalen, Dreiecke, Parallelen können in der Komposition erkannt werden.

Diesen Momentaufnahmen gegenüber eröffnet uns die Künstlerin eine ganz andere Bildwelt. Sorgfältig arrangierte und ausgeleuchtete Studioaufnahmen von Mädchen und Frauen in Halbfigur, mehrheitlich Akte. Jeder von ihnen ist ein Gegenstand zugeordnet, sei es, dass sie etwas in der Hand hält, z.B. einen Zweig oder einen Fisch, sei es dass auf ihrem Kopf ein Schmetterling oder ein Bergkristall balanciert. Der Hintergrund ist tief schwarz, davor leuchten die hell ausgeleuchteten Körper manchmal fast wie Marmorstatuen und sind doch so eindeutig lebendig, ja sie scheinen zu atmen. So sehen wir eine junge Frau, den Blick gesenkt auf ihre Hände, in denen sie feierlich und wie etwas unendlich Kostbares Froschlaich hält. Wie Perlenschnüre in fliessender Gestalt liegt der Laich und rinnt zwischen den Fingern hindurch. Das Licht fällt von oben auf den geneigten Kopf, die Schultern und den kostbar glitzernden Laich, Gesicht und Brust liegen im Schatten. Irritierend und geheimnisvoll zugleich schimmern dunkle Adern durch die fast wächsern wirkende Haut.


An den anderen beiden Wänden öffnen Farbbilder wiederum ganz andere Bildwelten. Eine ganz in Rot getauchte Wasserlandschaft  auf der einen und drei in Blautönen gehaltene Ansichten einer Parklandschaft - ebenfalls an einem See - auf der gegenüber liegenden Wand. Die eine wirkt wie eine verblasste alte Postkarte, wo nur die Grün- und Blautöne dem bleichenden Sonnenlicht widerstanden, während das Rot entwichen ist. Tiefes dunkles Blau herrscht in den anderen beiden vor. Da liegt dieser barocke Garten vor fast violett-blauem Wasser – eine gespenstische Szenerie bei Nacht – wie ein Bühnenbild für einen melodramatischen Film. Der Held, der darin auftritt ist allerdings ein gefiederter. Ein weisser Pfau hat sich auf einem Stuhl niedergelassen, lässt seinen Schweif elegant zu Boden gleiten. Ein Bild wie aus einem Traum, unwirklich und unendlich schön.
 
Im zweiten Saal entdecken wir wiederum eine andere Bildsprache. Majestätische Birnbäume, deren Porträts in ihrer Sachlichkeit an die Becher Schule erinnern. Schwarz-weiss, der Baum zentriert und solitär, der Horizont tief, der Himmel oft leicht bedeckt, sodass keine starken Schatten fallen, präzis gezeichnet die Konturen. Doch eben weil es sich um charaktervolle, ausserordentlich unterschiedlich gewachsene Bäume handelt, die einen in voller Lebenskraft, andere bereits vom Alter gezeichnet, manche stolz und aufrecht, andere von Wind und Wetter gekrümmt, erlangen die Fotografien Bildnishaftigkeit. Und es eignet ihnen die Melancholie einer untergehenden Welt an.

Spontanen, ja experimentellen Charakter hat hingegen die kleine Serie, die den Besucher im Flur empfängt. Unterwasser Aufnahmen eines jungen, männlichen Schwimmers, die geblümte Badehose bringt eine verspielte Note hinein. Die Wasseroberfläche hängt wie eine gläserne Glocke über ihm, verdeckt den Kopf, hier und da steigen Luftblasen durch das grünliche Wasser auf. Auf dem Körper zeichnen Lichtreflexe netzartige Strukturen; sie erinnern ein wenig an die Adern im Frauenakt.

So öffnet uns die Künstlerin mit diesen wenigen Werkgruppen das weite Spektrum ihrer Schaffensweisen, sowohl was die Motivwelt, wie auch was die formalen Aspekte betrifft. Was ihre Fotografien - bei aller Vielfalt – verbindet, ist dass sie eigentlich nichts erzählen. Sie sind der Poesie näher verwandt als der Prosa. Sie zeigen uns eher Zustände als Ereignisse.
 
Die oft beschriebene Entrücktheit wirkt umso intensiver, als vielen Fotografien etwas Fliessendes zu eigen ist, es sind nicht eingefrorene Momente, vielmehr wirken manche Bilder als ob sie in einem Zustand des Vibrierens wären. Diese Qualität haben teilweise auch Fotografien, die mit Lochkameras aufgenommen wurden, oder  solche aus den Anfangszeiten der Fotografie, als noch lange Belichtungszeiten notwendig waren. Die Gegenstände scheinen leicht zu flimmern, es fehlt ihnen eine klare Kontur.  

Manchmal ist es, als ob wir dem Entstehungsprozess des Bildes beiwohnen würden. Jener magische Prozess, der mit der Digitalfotografie – leider - verschwunden ist. (Vielleicht mit ein Grund, weshalb Simone Kappeler noch immer vorwiegend analog arbeitet.) Als ob wir uns in der Dunkelkammer befänden und zuschauten, wie auf dem Papier sich langsam Formen abzeichnen, eine Landschaft auftaucht, Dinge oder Personen erkennbar werden. So scheinen manche Bilder während der Betrachtung erst zu entstehen, immer wieder von Neuem aufzutauchen aus dem Nichts.

Besonders deutlich wird dieser schwebende Zustand im Bild „Nussbaumersee“, jene in rot getauchte Wasserlandschaft mit der am Ufer liegenden Gestalt, deren Körper vor dem dunkelsten Winkel hell aufleuchtet. Steht man davor, scheint die ganze Szene zu flimmern, der Körper zu atmen.

Dieser Charakter des Auftauchens aus den Tiefen der Bildfläche – eigentlich ein Widerspruch in sich selbst – haftet vielen Bildern von Simone Kappeler an. Es ist nicht nur die Unschärfe, die das bewirkt – die Fotografien tragen vielmehr den Charakter des non-finito in sich, wie man es aus der Kunst insbesondere der Bildhauerei kennt. Sie befinden sich in einem Zustand des Unvollendeten, des stetigen Werdens.


Das beschriebene Bild vom Nussbaumersee ist mit Infrarot-Film und einem Sperrfilter aufgenommen – und damit möchte ich zu einigen Aussagen über die Technik in Simone Kappelers Werk kommen, die sie in experimenteller Anwendung in einen fruchtbaren Dialog mit der Gestaltung bringt. Es ist eines der besonderen Merkmale ihrer Arbeit, dass sie nicht nur mit der Hasselblad und professionellen Fachkameras arbeitet, sondern sehr oft mit Kleinbild- und verschiedenen Billigkameras, insbesondere der legendären Diana, deren technische Mängel für ästhetische Wirkungen genutzt werden. Dazu kommt der Einsatz verschiedener Spezial-Filme und Filter, wie der erwähnte Infrarot-Film, Falschfarbenfilm, sowie Experimente – eigentlich „Fehler“ – beim Entwickeln, die zu Farbverschiebungen führen.

In seiner Schrift „Für eine Philosophie der Fotografie“ plädiert Vilém Flusser dafür, dass der Fotograf die Technik überlisten, ja sich über deren Vorgaben hinwegsetzen müsse, um nicht im Dienste der Kamera zu stehen, sondern sich diese dienstbar zu machen und damit überhaupt gestaltend wirken zu können. Vielleicht wäre Simone Kappeler ein Beispiel für die Umsetzung dieser Forderung. Immer wieder gelingt es ihr, mit den technischen Schwächen und durch scheinbare Fehlmanipulationen besondere ästhetische Wirkungen zu erzeugen.

Manchen Bildern von Simone Kappeler eignet die Atmosphäre historischer Aufnahmen an.

Bernd-Alexander Stiegler hat in seinem Text zum bisher umfassendsten Buch von Simone Kappeler, „Seile Fluss Nacht“, das  2011 im Rahmen ihrer grossen Retrospektive in Schaffhausen erschien, den Gedanken entwickelt, dass sie die Geschichte der Fotografie sozusagen wiederhole, resp. wieder in die Gegenwart hole und zugleich in die Zukunft hineinführe. Er weist u.a. auch auf jenen Richtungsstreit hin, der vor hundert Jahren ausgefochten wurde zwischen den Piktorialisten, welche die Unschärfe als künstlerisches Mittel einsetzten, und der „straight photography“, welche gerade die Detailgenauigkeit, die dank der neuen Technik möglich ist, als höchstes Ziel des Fotografen verteidigten. In Simone Kappelers Werk vereinigen sich beide Richtungen.

In seiner „Geschichte der Unschärfe“ erzählt und analysiert Wolfgang Ulrich die Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der abstrakten Kunst und der Unschärfe in der gleichzeitigen künstlerischen Fotografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Unschärfe galt als Beweis für das Künstlerische des neuen Mediums und sollte die Fotografie der Malerei gleichstellen. Der Autor zeigt auf, wie gerade die Vermeidung der technischen Fähigkeiten der Kamera, nämlich ein genaues Abbild der Wirklichkeit zu erzeugen, als künstlerischer Akt verstanden wurde. Manche Künstler-Fotografen sahen in den unscharfen Aufnahmen eine Verwandtschaft zu inneren Bildern, und strebten danach, diese zu evozieren. Andere suchten sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, überflüssige Details zu eliminieren, um dem Kern der Dinge nahe zu kommen.

Es kann hier nicht darum gehen, diesen historischen Disput aufzuzeichnen, doch einige Aspekte könnten durchaus auch heute noch Einfluss auf unsere Rezeption haben. Die Reduktion, das Ausblenden, Überblenden von Details wurde damals auch als Beruhigung überspannter und überforderter Sinne wahrgenommen und angestrebt. Der/die Betrachter/in sollte zur Ruhe kommen und nicht durch zahlreiche, oberflächliche Details abgelenkt und verwirrt werden.

„Die Unschärfe diente also dazu“, – so Ulrich – „ein Gleichgewicht zu wahren, und je stärker sich die Menschen – gerade auch – von Bildern und Reizen übersättigt fühlten, desto mehr suchten sie andererseits nach Bildern, in die sie sich aus ihrer Alltagswelt flüchten konnten – bei denen sich ihre Wünsche nach Ruhe, Harmonie, Anspruchslosigkeit erfüllten.“ (S. 52)


Vielleicht -  könnte man sich fragen – stehen wir heute an einem ähnlichen Punkt. Vielleicht ist der digitale Umbruch eine ähnliche Überforderung unserer Sinne, wie damals die neuen Fortbewegungsmittel und andere technische Errungenschaften. Vielleicht ist die Ruhe und Stille, die Dehnung der Zeit, die wir  in Simone Kappelers Bildern finden jene wohltuende Oase in einer Flut von Informationen, in der ständigen Präsenz im Datenfluss, dem wir ausgesetzt sind und uns aussetzen. Vielleicht ist es gar nicht die Entrücktheit, die in diesen Bildern so oft – auch von mir - gerühmt wird, sondern gerade ihre unbedingte Gegenwärtigkeit, die uns fesselt. Eine Gegenwärtigkeit, die uns in unsere eigene Gegenwart führt, in einen Zustand desda Seins–jetzt. Wo auch die Erinnerung als Teil der Gegenwart präsent ist. Wo die Zeit – wie es der russische Filmregisseur Andrej Tarkowksij formuliert hat – „ein Zustand ist, das lebensspendende Element der menschlichen Seele, in dem sie zu Hause ist wie der Salamander im Feuer.“  (S. 63) – Ein Zustand, in dem die Stille Einkehr halten kann.

Mit einem weiteren Zitat von Andrej Tarkowksij aus „Die versiegelte Zeit“ möchte ich meine Laudatio schliessen:

„Ein Bild – das ist ein Eindruck von der Wahrheit, auf die wir mit unseren blinden Augen schauen durften.  [... ]

Getreu wird ein Bild dann, wenn es in ihm Elemente gibt, die die Wahrheit des Lebens zum Ausdruck bringen und es zugleich so einmalig und unwiederholbar machen, wie es das Leben selbst in seinen unscheinbarsten Phänomenen noch ist.“ (S. 120-21)

Liebe Simone, ich danke Dir für diese Augenblicke der Stille und gratuliere Dir herzlich zum Konstanzer Kunstpreis!

Corinne Schatz, Kunsthistorikerin

Zurück