... sondern vom äußersten Saum, und selbst von der Farbe der Dinge ...

Katharina Hinsberg

Rede Vernissage

KATHARINA HNSBERG: …sondern vom äußersten Saum und selbst von der Farbe der Dinge…

Einführung: Dr. Dolores Claros-Salinas

Liebe Kunstfreundinnen und –freunde,

wir erleben den historischen Oberlichtsaal, eingerichtet vor 110 Jahren und seither ein Raum für sehr unterschiedliche Ausstellungen, gänzlich neu:
bunt, flattrig, vier Wände, die nicht mehr Träger von Bildern sind, sondern das Bild selbst.

Gestaltet hat ihn Katharina Hinsberg, eine der namhaftesten Zeichnerinnen unserer Gegenwart.  Aber sehen wir deshalb Zeichnungen? Katharina Hinsberg ist weiter Professorin für konzeptuelle Malerei an der Hochschule der Bildenden Künste Saar in Saarbrücken. Handelt sich also bei ihrer Arbeit hier um Malerei?

Am besten nähern wir uns, indem wir den Entstehungsprozess beschreiben.

Den Anfang machten rot-flirrende Leuchtlinien eines Laserliners an der nackten Wand, für diese Ausstellung sogar befreit von den beiden Heizkörpern.
Die Lasermesspunkte wurden in feinen Bleistiftmarkierungen an der Wand festgehalten. So entstehen im Abstand von etwa 15 Zentimetern vertikale Eintragungen die Wand hinunter, feine durchbrochene Linien, die jeweils um einen Meter zur Seite versetzt, wiederholt erscheinen und sich rund um die Wände fortsetzen. Ein zusätzliches Hilfsmittel, das Agnes Müller, Aufbau–Assistentin von Katharina Hinsberg, ersonnen hat, war ein Gummiband, in das die gleichen Abmessungen eingetragen sind und das Unebenheiten der Wände, kleinere Wölbungen etwa, durch Dehnung überwindet, ohne dass die übrigen Messpunkte von neuem zu bestimmen sind.

Die Bleistiftstriche sind Anhalt für den nächsten Arbeitsschritt: schmales, etwa einen Zentimeter hohes, honigfarbenes, doppelseitiges Klebeband wird von einer Bleistiftsäule zur nächsten gezogen, beginnend unter der Deckenwölbung, eine handwerklich nur mit einiger Konzentration durchzuführende Arbeit, hoch auf einem Rollgerüst (für die Rollgerüstschieber eher eine meditative Tätigkeit…).

Es entstehen in zweitägiger Arbeit Querlinien, die alle Wände durchziehen, in 20 Zeilen und in einer Gesamtlänge von über einem Kilometer. Der Raum gewinnt an Strenge, die Streifenkontur erscheint als eine in sich abgeschlossene Gestaltung, die fast nach keinem weiteren Arbeitsschritt verlangt.

Hier aber setzt Katharina Hinsberg, für die Praxis, das kontinuierliche Tun, das immer Weitermachen an einer Arbeit von wesentlicher Bedeutung ist, eine nächste Transformation an: Seidenpapierstreifen werden in Dachschindelformat, ganz genau sind es 31,5 x 10 cm,  geschnitten, auf das Klebeband angebracht, Zeile für Zeile wird bestückt, ein Lot sichert die vertikale Anordnung, die jeweils oberen Papierschindeln überlappen die unteren – eine immens aufwändige Arbeit, die Katharina Hinsberg, unterstützt von Christiane Dassecker, ganz fünf Tage, meist bis in die Nacht hinein, unternimmt.

Die Wandstruktur, die honigfarbene Lineatur verschwindet in dieser mehrtägigen Arbeit immer weiter, bis die Wände aufgelöst sind in diesem vielfarbenen Papiergebilde, das bei Luftzufuhr leise raschelt, sich unregelmäßig bewegt, das auch seine Farbigkeit, ohnehin eine nicht mit einem Blick zu erkundende, nur jeweils in Ausschnitten zu erfassende Komposition, immer wieder zu ändern scheint.

Die Farbauswahl ist dabei gesteuert durch das vorliegende Warensortiment für Seidenpapier, die Abfolgen, die Nachbarschaften der teils so kräftig eingefärbten, teils dezentfarbigen Seidenpapiere aber legt die Künstlerin fest – an einem eigens hergestellten Modell des Kunstvereinssaals wurden erste Farbreihungen erprobt, im tatsächlichen Aufbau aber durchaus verändert.

 

Zurück zur Frage: ist das Zeichnen oder Malerei?

Zur Malerei gehören Pinsel, Bürsten oder Rakel, die Farbe auf einem Grund aufbringen –  Pinsel und ähnliche Werkzeuge fehlten, Farbe hingegen ganz und gar nicht.

Zur Zeichnung gehören gängigerweise Papiergrund - hier die Tapete -, Stift - hier Bleistiftmarkierungen ganz zu Beginn -, der Ausgang von der Linie – hier ein doppelter: die Querstreifung durch Klebebandlinien, die Schindellinie durch Seidenpapier.

Bei aller illusionistischen Möglichkeit eine dritte Dimension durch perspektivisches Zeichnen einzuführen, gehört zur Zeichnung aber auch die Beschränkung auf die Zweidimensionalität des (Papier)grunds.  

Hier geht Katharina Hinsberg einen entscheidenden Schritt weiter: die fragilen Seidenpapierstreifen greifen in den Raum, heben die Zweidimensionalität der darunterliegenden Wand auf, die Linien werden körperlich – und die ganze Arbeit am Ende skulptural?

Die definitorischen Fragen nach Zeichnen, Malen und nun auch nach Skulptur bringen nicht recht weiter – Katharina Hinsberg findet sie ohnehin unproduktiv, sie setzt ihren Fokus in ihr Tun, das beständige Arbeiten an Grenzen, geleitet durch eine Handlung, die die Künstlerin Linienpraxis nennt.  

Linienpraxis ist auch an den kleinformatigen Zeichnungen nachzuvollziehen, die im Nebensaal einen Fries unter Augenhöhe bilden. Sie von Nahem zu betrachten, empfiehlt sich: die fein gesetzten, bunten Strichelungen reflektieren die räumliche Papierinstallation des Hauptsaals, sie bieten nicht nur die vertikale Perspektive, wie wir sie hier erleben, sondern ergänzen auch horizontale Anlagen, kombinieren diese - vielleicht eine Variante für kommende Arbeiten?

An einen wesentlichen Ausgangspunkt zurück im Werk Katharina Hinsbergs weisen die Arbeiten in unserem dritten Ausstellungsraum: Linien, die Katharina Hinsberg zeichnet, belässt sie so nicht. Die Linien werden weiterbearbeitet: sie werden ausgeschnitten, aus dem Papiergrund entfernt, bestehen nur noch als Negativ, als Lücke fort. So werden bei der Arbeit mit dem Titel Lacunae,  im ersten Schritt von Hand rote Linien vertikal gezogen und dann mit einem feinsten Cutter-Messer abschnittsweise kleine, unterschiedlich lange Strecken im Schräganschnitt entfernt – am Ende erscheinen die ehemals durchgezogenen roten Linien als leuchtende,  rautenförmige Markierungen, der fragil-löchrige Papiergrund wölbt sich leicht –  auch hier ist die Grenzgängerin zwischen zweiter und dritter Dimension, zwischen Zeichnung und Plastik, bereits zu erkennen.

Weitere Schnittarbeiten sind ganz aktuell: hier arbeitet Katharina Hinsberg unter der Lupe, schneidet mit äußerster Präzision ohne Vorzeichnungen, dreht die filigranen Werkstücke immer wieder, beginnt eine neue Schneiderichtung und erzeugt auf weißem Papier lebhafte, unregelmäßig angelegte Strukturen, die sich je nach Lichteinfall, je nach Blickwinkel differenzieren.

 

Katharina Hinsberg´s Ausstellung im Kunstverein Konstanz ist nicht nur in ihrem unbedingten Zugriff auf den Raum, die vier Wände, außergewöhnlich, auch der Ausstellungstitel fällt auf: es ist zunächst der längste Titel, an den ich mich erinnere:  …sondern vom äußersten Saum und selbst von der Farbe der Dinge…

Zitiert wird darin Lukrez, der spätrömische Dichter und Philosoph, der mit seinem Lehrgedicht De rerum naturae, Vom Wesen der Natur, aus dem 1. vorchristlichen Jahrhundert bis heute fortwirkt. Wiederentdeckt wurde diese Handschrift mit fast 8000 Versen vor 600 Jahren, im Jahr 1417 – dem vorletzten Konzilsjahr und tatsächlich gibt es hier einen unmittelbaren Konstanz-Bezug: es war der Sekretär des Gegenpapstes Johannes XXIII, Poggio Bracciolini, der in Konstanz nach Absetzung seines Arbeitgebers kaum noch gefordert, im Umland Klosterbibliotheken auf der Suche nach verschollenen Texten durchstöberte und fündig wurde.

Lukrez, philosophisch dem Lager der Epikureer zuzuordnen, entwickelt in seinem Lehrgedicht u.a. eine Wahrnehmungstheorie, bei der die Dinge in eigentümlicher Weise auf uns zukommen, ich zitiere:

Also sag´ ich, es senden die Oberflächen der Körper dünne Figuren von sich, die Ebenbilder der Dinge; Häutchen möcht´ ich sie nennen, und gleichsam Hülsen von diesen; denn sie gleichen an Form und Gestalt dem nämlichen Körper, dem entflossen umher sie die freien Lüfte durchschwärmen…Wie, wann die holde Cicade das rundliche Röckchen im Sommer abwirft, oder…wenn an Dornen die schlüpfrige Schlange lässet ihr Kleid, dass den flatternden Raub an Büschen wir sehen. Zeigt die Erfahrung uns dies, so müssen auch dünnere Bilder senden die Dinge von sich, vom äußersten Rand derselben…Nicht…aus dem Innern selbst und dem Ganzen, sondern vom äußersten Saum und selbst von der Farbe der Dinge.

Soweit Lukrez, Von der Natur der Dinge, Buch 4.

Mit seiner Vorstellung der Dingwahrnehmung als Wahrnehmung von Ebenbildern, lateinisch Simulacren, legte Lukrez die Fährte für einen modernen, gesellschafts- bzw. medienkritischen Begriff des Simulacrums, der den Aspekt der möglichen Täuschung durch ein Scheinbild hervorhebt, die zunehmende Unmöglichkeit zwischen Original und Abbild, zwischen Realität und Imagination sicher zu unterscheiden.

Bleiben wir bei Lukrez - wenn wir ihm, dem Epikureer, folgen, werden wir die besonderen Häutchen und Hülsen, die frei den Kunstverein, unseren so gewandelten Oberlichtsaal, durchschweben, alle Simulacren, die sich absondern vom äußersten Saum und selbst von der Farbe der Dinge wahrnehmen und zu genießen wissen.

Dolores Claros-Salinas

Vernissage   
Freitag, 27.7.2018, 19 Uhr
Einführung: Dr. Dolores Claros-Salinas

 

Die Linie bestimmt die künstlerische Arbeit von Katharina Hinsberg (* 1967). Zu erwarten ist demnach ein zeichnerisches Werk, das Arbeiten mit Stiften auf Papier – dies ist allerdings nur der Beginn, die Linien, die Katharina Hinsberg mit rotem Farbstift, Tusche, Graphit oder Acrylfarbe zeichnet, belässt sie so nicht. Vielmehr bringt sie feine Cutter-Messer zum Einsatz und schneidet die gezeichneten Linien aus oder stellt sie frei, indem sie den Papiergrund entfernt.  Die dabei entstehenden fragilen Gebilde werfen, als Wandarbeit montiert, Schatten, pendeln in leichter Bewegung und lassen so das Zweidimensionale einer Zeichnung hinter sich, greifen in den Raum.

In der Werkgruppe Diaspern, orientiert an einer altpersischen Webtechnik, arbeitet die Künstlerin mit zwei übereinanderliegenden Blättern: Graphitlinien, auf dem oberen Blatt zuvor gezeichnet, werden durch Schneiden getilgt aber zugleich durch den Schneideprozess auf das untere Papier übertragen. Dieser Wende von Positiv ins Negativ, der Lösung der Zeichnung vom Ursprung der zeichnenden Hand durch den Schneideprozess, der Reflexion des Flüchtigen und dem doch in anderer Form bewahrten Nachbild gilt das Interesse der Künstlerin.

Für den historischen Oberlichtsaal des Kunstvereins Konstanz richtet Katharina Hinsberg eine ortsspezifische Installation ein: in einer die Wand erobernden Arbeit ordnet die Künstlerin vielfarbige Streifen aus Seidenpapier zu einer Schindelstruktur, deren gleichmäßige Lineatur doppelt dynamisch wird: über die Schindelzeilen legen sich zeichnerische Linien. Die Papierstreifen selbst sind so fein am oberen Rand befestigt, dass jede Luftbewegung sie in Schwingung zu versetzen mag. Das Durchscheinen der Farbe der jeweils unteren Reihe, das farbige Aufscheinen der hochgewirbelten Schindeln fügt eine malerische Qualität bei, die die Ausgangseinordnung, es handle sich um räumlich-installative Zeichnung, unsicher werden lässt.  

 „... sondern vom äußersten Saum, und selbst von der Farbe der Dinge­­­­ ...“ betitelt Katharina Hinsberg die Ausstellung und zitiert dabei aus Lukrez´ berühmtem Lehrgedicht de rerum natura, das im ersten vorchristlichen Jahrhundert entstand und bis in die zeitgenössische Philosophie fortwirkt.  Der römische Dichter und Philosoph beschreibt die Natur der Dinge, u.a. die Möglichkeit ihrer Wahrnehmung und prägt den Begriff der Simulacren: die Oberflächen der Körper senden unablässig dünne Figuren von sich, „Häutchen“ vom äußersten Rand der Körper, Simulacren, die die Dinge als Ebenbilder, ihnen sehr ähnliche Abbilder sichtbar machen.

 

Katharina Hinsberg ist seit 2011 Professorin für Konzeptuelle Malerei an der Hochschule der Bildenden Künste Saar in Saarbrücken und vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem 1. Preis Kunst am Bau, Fraunhofer-Institut, Karlsruhe (realisiert 2017) oder dem Preis der Helmut-Kraft Stiftung (2014). Kinder- und Jugendjahre hat sie am Bodensee, in Konstanz verbracht. Für die junge Künstlerin ergab sich dann ein besonderer Bezug zum kulturellen Leben in Konstanz: 2001 wurde ihr der „Förderpreis der Stadt Konstanz – Junge Kunst!“ zuerkannt.

„Nulla dies sine linea“ ist der Titel einer dreidimensionalen Arbeit, für die Katharina Hinsberg seinerzeit u.a. geehrt wurde: über 900 einzelne Papierblätter sind zu einem Stapel geschichtet, jedes Blatt ist von einer feinen Linie durchzogen, deren Ende im Anschnitt der Blätter wiederum eine senkrecht den Papierstapel kennzeichnende Spur ergibt.

„Kein Tag ohne Linie“ – daran hat sich die Künstlerin im Grunde gehalten - wie vielgestaltig sie diese Spur bis in ihre gegenwärtigen Arbeiten verfolgt, macht die Ausstellung des Konstanzer Kunstvereins sichtbar.

Das Konzert im Kunstverein, das gegen Ende der Ausstellung, am 5. September, einen besonderen Akzent setzt, präsentiert Luluk Purwanto, indonesische Jazzgeigerin, im Dialog mit dem Konstanzer Schlagzeuger und Percussionisten Patrick Manzecchi.

 

Öffentliche Führungen                  
Do, 2.8.2018, 18.30 Uhr 
So, 12.8.2018, 11:30 Uhr
Do, 30.8.2018 18.30 Uhr
So, 7.9.2018, 11.30 Uhr

Konzert                                            
open sound im Kunstverein: Luluk Purwanto (violin) & Patrick    Manzecchi (drums, percusssion & sound)
Mi, 5.9.2018, 19.30 Uhr

Öffnungszeiten                               
Di –Fr, 10 bis 18 Uhr
Sa/So, 10 bis 17 Uhr

Fotos: Franz Reichrath

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